Langford, Vancouver Island, 26.12. – Easton
»Ich kann es nicht erwarten, ihre Reaktion zu sehen.« Leanne wirkte total aufgeregt – und das zu Recht. Schließlich hatte ich selbst noch nicht so ganz begriffen, was gerade mit uns geschah.
Sie zog das Geschenkpapier am Karton nach oben und befestigte es mit einem Klebestreifen. »Sieht doch gut aus, oder? Bestimmt denken alle, dass sie ein Foto von uns beiden geschenkt bekommen. Oder von der Familie. Irgendeine Erinnerung an eines der Treffen im letzten Jahr.«
Ich lachte auf. »Das ist ziemlich wahrscheinlich, ja.«
It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas von Bing Crosby drang leise aus den Boxen und löste ein warmes Gefühl in mir aus beim Gedanken daran, wie Mom beim Plätzchenausstechen immer ihre Hüften dazu geschwungen hatte.
»Dabei ist es vermutlich das erste Foto, das du verschenkst, das du nicht selbst gemacht hast.«
Statt zu antworten, grinste ich breit. Denn Leanne hatte so was von recht. Ich nahm den nächsten Bilderrahmen zur Hand und reichte ihn ihr, die mir im Austausch das fertig verpackte Geschenk gab, auf das ich noch eine Schleife kleben wollte.
»Bist du nervös?«, fragte sie schließlich, als sie den Rahmen eingepackt hatte.
»Sehr.«
»Aber es wird bestimmt nicht so ablaufen wie letztes Jahr Weihnachten bei euch. Du kannst also sicher völlig relaxt bleiben«, versuchte sie, mich zu beschwichtigen.
»Bist du aufgeregt?«, stellte ich eine Gegenfrage.
»O Gott, ja!« Sie kicherte.
»Siehst du!« Ich zwinkerte und klebte die nächste Schleife auf.
»Das kannst du nicht vergleichen, Easton. Dein Dad wird nicht zum ersten Mal Großvater. Für meine Eltern hingegen ist es das erste Enkelkind. Sie werden bestimmt aus den Latschen kippen!« Sie atmete geräuschvoll aus. »Mist, was ist, wenn sie sich nicht freuen? Was, wenn sie der Meinung sind, dass es zu früh ist, dass wir einen Fehler begehen?«
Ich stand auf und ging um den Esstisch herum, bis ich hinter ihr hielt. Ich schlang meine Arme um sie und zog sie für einen Kuss an mich. »Das ist uns scheißegal. Genau so, wie uns egal war, dass einige Familienmitglieder anfangs ihre Probleme damit hatten, dass wir wieder zusammen sind.«
Sie lehnte sich gegen mich und schlang nun ihrerseits ihre Arme um meinen Nacken. Kurz wiegte sie sich im Takt der Musik hin und her, dann stand sie auf, um sich erneut an mich zu schmiegen. Ich legte einen Arm auf ihren unteren Rücken, mit der anderen Hand nahm ich ihre und führte sie mit ein paar schwungvollen Schritten um den Esstisch.
Ihr Bauch war nur minimal gerundet, im Grunde sah man noch nichts, wenn man es nicht wusste. Er hätte sich auch von zu viel Plätzchen ihrer Mom wölben können … Und doch wuchs ein Leben in ihr.
»Das ist so unglaublich«, murmelte ich, mein Gesicht an ihrer Halsbeuge. Tief atmete ich ihren einzigartigen Duft ein, der sich seit der Schwangerschaft ganz leicht verändert hatte. Bildete ich mir zumindest ein. »Ein Teil von dir und mir vereint in deinem Bauch wächst zu einem kleinen Mädchen oder Jungen heran und wird im Sommer das Licht der Welt erblicken.«
Sanft streichelte sie mir mit ihrer Hand durch meine Haare, die ich seit einigen Wochen wieder kürzer trug. Fast so kurz wie früher, vor unserer Trennung. Ich hatte den Eindruck, Leanne gefiel die neue Länge sehr.
»Das ist es. Aber es ist auch Schwerstarbeit. Ich bin schon wieder so müde, ich könnte ein Nickerchen vertragen.«
Ich grinste. »Darauf musst du heute leider verzichten. Wir kommen sonst zu spät.«
Leanne seufzte. »Ich weiß. Das wird ein anstrengender Tag …!«
Keine Stunde später erreichten wir unser erstes Ziel für heute – das Haus von Judy und Lawrence. Leannes Müdigkeit war wie weggeblasen, was vermutlich ihrer Nervosität geschuldet war. Sie konnte kaum stillhalten, und ich war mir sicher, dass sie während des gemeinsamen Mittagessens nur deshalb so viel plapperte, weil sie nicht wusste, wohin mit ihrer Aufregung. Richtig süß …
Endlich überreichten wir uns danach unsere Geschenke. Ich bekam von Judy und Lawrence dicke Winterhandschuhe, bei denen ich die Finger freilegen konnte, um damit meine Kamera oder die Fernbedienung der Drohne bedienen zu können, ohne dass mir dabei die Finger abfroren. Leanne hatte einen schönen Kaschmirpullover bekommen und eine goldene Halskette mit einem kleinen Herzen als Anhänger – inklusive einem Gutschein für eine Gravur. »Auf den könnt ihr euch, wenn ihr wollt, eure Initialen gravieren lassen. Oder ein für euch wichtiges Datum. Oder auch nur deinen Namen oder unsere oder …« Judy atmete tief durch und lachte verlegen auf. »Wir waren uns nicht sicher, was dir gefallen könnte, deshalb haben wir es auf diese Weise gelöst.«
Leanne standen Tränen in den Augen. »Die sieht aus wie die Kette, die ich als Kind gehabt habe.«
»Deshalb hab ich sie unbedingt kaufen müssen. Aber das ist kein Grund zum Weinen, Liebes«, sagte Judy und umarmte ihre Tochter. Lawrence beobachtete die Szene mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
»Das ist …« Leanne atmete tief durch und fächerte sich mit den Händen Luft zu, um die Tränen zu trocknen. »Tut mir leid, ich bin gerade sehr nah am Wasser gebaut.«
»Wir haben auch was für euch«, sagte ich und holte unsere Überraschung hervor – einerseits, um Leanne abzulenken, andererseits würde sie vermutlich gleich wieder ihre Tränen trocknen müssen.
Sie fasste das Geschenk an der anderen Seite an und überreichte es ihren Eltern gemeinsam mit mir.
»Ach, ihr zwei, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Judy lächelte verlegen.
Auch Lawrence schien peinlich berührt. »Ihr jungen Leute sollt doch sparen und nicht euer hart erarbeitetes Geld für uns ausgeben. Ich erinnere mich noch so gut an die Zeit, bevor du zur Welt gekommen bist, Leanne. Deine Mutter und ich haben jeden Cent zweimal umgedreht, haben alles gespart, was wir hatten, weil wir unbedingt einen eigenen Outdoor-Shop eröffnen wollten.«
»Wir haben kaum Geld dafür ausgegeben, Dad. Keine Sorge.«
Judy nahm das Geschenk an sich und riss das Papier runter, blinzelte, schaute erst Leanne an, dann mich, anschließend Lawrence. Schließlich wieder Leanne. »Ist das …?«
»Was ist es denn?«, wollte Lawrence wissen, der in der Zwischenzeit das Geschenkpapier mit dem von unseren Präsenten zusammengeknüllt hatte.
Sie drehte den Bilderrahmen so, dass er das Foto sehen konnte, und seine Reaktion war ähnlich der von Judy.
Leanne tastete nach meiner Hand, Halt suchend, zitternd.
»Gott, ist es wirklich das, wofür ich es halte?«, fragte Judy, und ihre Stimme bebte. In ihren Augen glitzerten Tränen, und als Leanne, immer noch starr vor Schreck, nickte, fiel ihr ihre Mutter um den Hals.
»Ha!« Lawrence lachte auf, dann klopfte er mir auf die Schulter. »Endlich schenkt ihr uns ein Enkelkind. Wir haben bereits gerätselt, wann es so weit sein wird.«
»Ihr … seid nicht böse?«, fragte Leanne vorsichtig.
»Aber nein, Liebes, wir freuen uns sehr! Wann ist es so weit? Wisst ihr schon, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird? Oh, ich freue mich so sehr auf das kleine Würmchen! Endlich ein Nachwuchs-Colton!« Jetzt drückte sie auch mich vor Freude, ehe sie ihre Tochter – oder, besser gesagt, deren Bauch – noch einmal musterte.
»Aber ihr werdet doch bestimmt heiraten, es wird also ein Archer, hab ich recht?«, fragte Lawrence mit leicht strengem Unterton.
Leanne sah kurz zu mir. Dieses Thema hatten wir in den letzten Wochen auch schon gehabt, waren uns aber nach knapper Absprache sofort einig gewesen. »Das ist für uns nicht wichtig. Wir sind zusammen, das ist alles, was für uns zählt. Nur weil ich schwanger bin, ist das für uns kein Muss, gleich zu heiraten. Wir wollen es aber auch nicht für immer ausschließen. Vielleicht holen wir es in ein paar Jahren nach – vielleicht aber auch nie. Das Wichtigste für uns ist, dass wir uns haben.«
Judy tupfte sich lächelnd mit einem Taschentuch die feuchten Wangen. »So oder so, wir freuen uns sehr für euch. Und wir können es kaum erwarten, endlich Großeltern zu werden.«
Lawrence grinste sie an. »Das bedeutet, dass du bald neben einem Grandpa schlafen musst. Ich hoffe, du kommst damit zurecht.«
»Solange du derjenige bist, ist das völlig in Ordnung.« Sie schmiegte sich an ihn und küsste ihn frech auf die Lippen.
Und ich nutzte den kurzen Moment, um Leanne an mich zu ziehen. »Du wirst die heißeste Mom der Welt sein, und ich bin der Glückspilz, der neben dir einschlafen und aufwachen darf.«
Sie reagierte mit einem Lächeln und einem Kuss, der mich für einen Moment vergessen ließ, dass ihre Eltern auch noch anwesend waren …
Als wir etwas später um einiges entspannter, dafür immer noch satt vom Mittagessen und den Keksen, bei meinem Elternhaus ankamen, stieg die Aufregung doch noch einmal an. Den parkenden Autos in der Einfahrt nach zu urteilen, waren alle anderen bereits da und wir waren – mal wieder – die Letzten.
Wir stiegen aus und sofort war ich an Leannes Seite, meine Finger mit ihren verschränkt. Das Geschenk hielt ich fest in meiner Hand, als wir die Verandatreppe hinaufstiegen, die auch in diesem Jahr wie der Rest des Hauses mit all den Lichterketten geschmückt war, die das Weihnachtsdekolager im Keller der Archers hergab. Doch diesmal tat es nicht weh. Es waren in den letzten Monaten so viele neue positive Erinnerungen entstanden, die den Verlust von Mom erträglicher machten. Sie würde nie ganz aus meinen Gedanken und aus meinem Herzen verschwinden, aber ich kam wieder gern nach Hause, zurück zu meiner Familie, die sich so gewandelt hatte.
Nach dem Klingeln hörten wir Ollie bellen, begleitet von einem Weinen, wie es nur Babys konnten. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und Reed schloss uns in die Arme. »Ihr haltet euch an die Tradition, zu spät zu kommen, oder?«, sagte er lachend.
»Hey, wir kommen direkt von den Coltons. Du weißt, Judys Kekse wirken wie Drogen, von denen man nicht loskommt.«
Er musterte mich von oben bis unten. »Das traust du dich zu sagen, ohne welche mitzunehmen?«
»O nein, die haben wir bei meinen Eltern vergessen«, sagte Leanne lachend. »War ein Scherz! Natürlich hätten wir es nicht gewagt, ohne Kekse zu kommen«, fügte sie schnell an und hob die Tüte hoch, in der die Dose steckte, die Judy uns mitgegeben hatte.
»Hat hier jemand was von Keksen gesagt?« Dad kam um die Ecke und umarmte erst Leanne, dann drückte er mich fest an sich.
Joanne tauchte hinter ihm auf, und auch sie begrüßte uns herzlich. Sie musterte Leanne, dann schaute sie von ihr zu mir. »Bist du …«, fragte sie leise an Leanne gewandt mit einem schnellen Blick auf ihren Bauch.
»Woher …?«, setzte ich an.
»Bist du was?«, fragte Dad nach und mit einem Mal stand die ganze Verwandtschaft um uns, alle Augen auf uns gerichtet.
Leanne biss sich grinsend auf die Lippen und stieß mir leicht in die Seite. »Ich glaube, das ist dein Auftritt, Easton.«
Ich reichte Dad unser Geschenk, meinen Arm um Leannes Taille gelegt. »Frohe Weihnachten, Dad. Von uns allen … für euch alle.«
Kiona schlug vor Freude eine Hand vor ihren Mund, ein kleines schlafendes Bündel auf ihrem Arm, Grace quietschte verzückt auf und Nora, die ihre kleine Tochter trug, grinste.
»Hä? Das ist für uns alle?«, fragte Jared verwirrt, doch Zoey stieß ihm in die Seite, machte »Pst!« und rollte mit den Augen.
Ein wissendes Lächeln lag auf Dads Lippen, als er das Weihnachtspapier vom Fotorahmen riss. »Noch ein Archer-Baby! Ich freue mich für euch, herzlichen Glückwunsch!« Er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. »Gut gemacht, mein Sohn. Deine Mutter wäre so glücklich und stolz auf dich. Und sie würde sich so auf euer Baby freuen.«
Mit einem Mal wurde es ganz eng in meinem Hals. »Danke, Dad. Das bedeutet mir viel«, sagte ich.
Er klopfte mir noch einmal auf die Schulter, dann wandte er sich an Jared und Zoey. »Ihr beide lasst euch aber bitte noch ein paar Jahre Zeit mit dem Nachwuchs, haben wir uns verstanden? So viele Puppenhäuser und Autobahnen kann ich gar nicht bauen in der Kürze.«
Der Satz sorgte dafür, dass alle in Gelächter ausbrachen. Wir bekamen Glückwünsche von allen Seiten, ehe wir ins Wohnzimmer gingen, wo Joanne und Dad einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatten. Daneben hing Moms Foto, und es war, als wäre sie ebenfalls hier bei uns, um dieses Weihnachten zu feiern. Als große Familie.
Ich sah mich um in diesem Raum, der voll war mit so viel Liebe. Mit allen Menschen, die mir wichtig waren und die mir in den letzten Monaten gezeigt hatten, wie unentbehrlich Familie ist.
Unvorstellbar, dass ich vor einem Jahr noch dachte, nicht mehr mit meinen Geschwistern und Dad und Joanne Weihnachten feiern zu wollen. Denn das hier, gemeinsam mit Leanne und unserem Baby, war das größte Geschenk, das wertvollste Gut, das ich bekommen konnte.
Cookie | Dauer | Beschreibung |
---|---|---|
cookielawinfo-checkbox-analytics | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt. Es wird dazu verwendet, das Einverständnis für Cookies der Kategorie "Analytics" zu speichern. |
cookielawinfo-checkbox-functional | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt. Es wird dazu verwendet, das Einverständnis für Cookies der Kategorie "Funktional" zu speichern. |
cookielawinfo-checkbox-necessary | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt. Es wird dazu verwendet, das Einverständnis für Cookies der Kategorie "Notwendig" zu speichern. |
cookielawinfo-checkbox-others | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt. Es wird dazu verwendet, das Einverständnis für Cookies der Kategorie "Sonstige" zu speichern. |
cookielawinfo-checkbox-performance | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt. Es wird dazu verwendet, das Einverständnis für Cookies der Kategorie "Performance" zu speichern. |
viewed_cookie_policy | 11 months | Dieses Cookie wird durch das GDPR Cookie Consent Plugin eingesetzt und wird zur Speicherung der Zustimmund bzw. des Widerspruchs zur Verwendung von Cookies verwendet. Es speichert keine personenbezogenen Daten. |